#Theater setzt Themen

Stadttheater Aschaffenburg

Anders als normal? Normal anders!

Nach einer gelungenen Premiere im letzten Jahr setzen wir unser neues Format „Theater setzt Themen“ auch in der Spielzeit 2022/2023 fort. Erneut widmen wir uns einer gesellschaftsrelevanten Fragestellung, die unter anderem anhand ihrer dramaturgischen Umsetzung erörtert wird. Begleitende Veranstaltungen und Vorträge verschiedener Disziplinen runden die Reihe ab.

Wie Sie anhand des obenstehenden Zitats ahnen können, wollen wir in dieser Saison zum Nachdenken über den Begriff der „Normalität“ anregen. Unser Leitmotiv lautet: „Anders als normal? Normal anders!“ Als roter Faden zieht sich die Thematik durch unsere kommende Spielzeit, indem die eingeladenen Produktionen kritisch hinterfragen, was wir in vielen alltäglichen Bereichen (z. B. Gesundheit, Partnerschaft, berufliche Rollenbilder) als „normal“ betrachten. Wir verstehen dies als konsequente Umsetzung des Bildungsauftrages, den Theater und Kultur haben und den wir als kommunale Einrichtung sehr ernst nehmen.

„Die Normalität ist eine gepflasterte Straße, man kann gut darauf gehen – doch es wachsen keine Blumen auf ihr.“

Vincent van Gogh

Betrachten wir beispielsweise den Umgang mit psychischen Krankheiten. Diese rückten vor allem in den Jahren 2011 bis 2013 durch die damals geführte Burnout-Debatte in den Fokus der Öffentlichkeit. Natürlich ist es positiv zu bewerten, dass in einem solchen Maß darüber gesprochen und diskutiert wurde. Dennoch sollten auch die entwickelten Stereotypen nicht unbeachtet bleiben: Burnout, das ist die Krankheit der Starken, der Leistungsträger, die sich für die Gesellschaft aufopfern. Depressionen hingegen werden im Bereich des Privaten und des Individuellen verortet – Depressionen bekommen die Schwachen. Wenn dann die Verantwortung im nächsten Schritt an den Einzelnen abgegeben und individuelle Verhaltensprävention zum Mittel der Wahl proklamiert wird, ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zum Auftrag zur „gesundheitlichen Selbstoptimierung“. Welche Folgen dieser Denkansatz und Handlungsauftrag für eine Gesellschaft haben kann, zeigt Juli Zeh in ihrem Roman „Corpus Delicti“. Wir haben eine Adaption des Werkes für das Theater zu Gast in einer Inszenierung des Theaters der Altmark im April 2023. Ein starkes Plädoyer für die Enttabuisierung psychischer Krankheiten allgemein können Sie im Mai 2023 erleben, wenn das Team der Waggonhalle Marburg das Pulitzerpreis-gekrönte Musical „Fast Normal – next to normal“ an mehreren Tagen auf die Bühne des Stadttheaters Aschaffenburg bringt.

Institutionen, die an der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen beteiligt sind, Selbsthilfegruppen und Betroffenen-Initiativen sind vernetzt in der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft Bayerischer Untermain. Gemeinsam mit diesen wollen wir ein Rahmenprogramm zu unserem Spielzeitthema „Anders als normal? Normal anders!“ gestalten. Vertreter*innen der Institutionen werden bei ausgewählten Veranstaltungen Informationsangebote im Theater-Foyer aufbereiten und auch persönlich Rede und Antwort stehen. Wir hoffen, auf diese Weise zu einem fruchtbaren Dialog und einer Enttabuisierung beitragen zu können.

Auch das Thema Gleichberechtigung ist im 21. Jahrhundert leider noch lange nicht zu Ende diskutiert. In den USA beispielsweise haben die Frauenrechte im Sommer 2022 durch das Urteil des Supreme Court zur Abtreibungsproblematik einen beachtlichen Sprung rückwärts vollzogen und eine gesellschaftliche Debatte neu entfacht, die überwunden zu sein schien. Leider ist auch im 21. Jahrhundert für einige der Anblick einer Frau am Dirigentenpult eines Symphonieorchesters nach wie vor nicht „normal“. Wir stellen hier einmal die Bewertung der sicherlich nicht für seine feministische oder radikal linke Gesinnung bekannten Tageszeitung „Die Welt“ in den Raum: „Klassische Musik war in Sachen Sexismus dem Fußball (und der katholischen Kirche) immer schon beinahe ebenbürtig. Ist es noch immer.“ (Elmar Krekeler in einem Artikel über den Film „Die Dirigentin“ von Maria Peters im September 2020). Wir bleiben aber nicht bei der Bewertung, sondern setzen in unserem Gastspielprogramm ein Zeichen: Die Württembergischen Philharmonie Reutlingen hat mit Ariane Matiakh in der Spielzeit 2022/23 erstmals eine Chefdirigentin auf dem Posten der Künstlerischen Leitung und wird im Januar 2023 mit ihren Musiker*innen und einem spannenden Programm in der Stadthalle am Schloss zu sehen und zu hören sein.

Uns als Kulturamt ist bewusst, dass wir mit dieser Ausgabe von „Theater setzt Themen“ unter Umständen auch kontroverse Diskussionen provozieren werden. Wir scheuen diese nicht, im Gegenteil: Sie sind nötig, um die Grundlagen für Veränderungen zu schaffen, denn

„Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.“

Francis Picabia